J. Haydn
Die Schöpfung
Pauluskirche Ulm
Sonntag, 5. Mai 2019, 18.00 Uhr

 

Klingendes Wunder der Natur

Die Ulmer Kantorei und das Philharmonische Kammerorchester führen Haydns „Schöpfung“auf.

Südwest Presse Ulm vom 07.05.2019

Es gibt nur ganz wenige Werke, die nicht nur zu ihrer Entstehungszeit hoch modern waren, sondern durch die Jahrhunderte hindurch immer mehr an brennender Aktualität hinzugewonnen haben. „Die Schöpfung“von Joseph Haydn ist ein solches Ausnahme-werk. Entstanden Ende des 18. Jahrhunderts, als fast alles auf der Erde noch im Übermaß vorhanden war: Blumen, Gräser, Bäume, Tiere, „in vollem Wuchs und ohne Zahl“, wie es im zweiten Teil heißt – und als Krone der Schöpfung der Mensch.

Tempi passati! Heute stehen wir moderne Menschen zwar an der Spitze der Nahrungskette, empfinden uns aber im Angesicht von Umweltzerstörung, Artensterben und Klimakatastrophe kaum mehr als von Gott gekrönt. „Die Schöpfung“von Joseph Haydn zu hören heißt deshalb auch – und von Mal zu Mal mehr –, nicht nur die musikalische Größe des Werkes zu begreifen und zu bewundern, sondern vor allem den in ihr ausgestellten Arten-katalog zu ertragen. Überspitzt könnte man sagen: Nur wenn es einer Aufführung des Oratoriums gelingt, Textzeilen wie „Die Luft erfüllt das leichte Gefieder, das Wasser schwellt der Fische Gewimmel, den Boden drückt der Tiere Last“oder „Wie Staub verbreitet sich in Schwarm und Wirbel das Heer der Insekten“so zu präsentieren, dass es einem Tränen in Augen treibt, ist es auch eine gelungene Aufführung.

Kongeniale Lesart

Wir dürfen konstatieren: Was das Philharmonische Kammerorchester Ulm und die Ulmer Kantorei unter der Leitung von Chordirektorin Ulrike Blessing ihren Zuhörern zumutete – hier im besten Sinne des Wortes verstanden –, war grandios. Ohne Pause führte Blessing Musiker und Publikum durch den Abend, so dass Drive und Dramaturgie des Werkes sich ideal entfalten konnten.

Schon die Einleitung, „Die Vorstellung des Chaos“, damals ein Quantensprung in Sachen avancierter Tonsprache, geriet zum Hinhörer erster Güte. Überhaupt entfaltet die „Schöpfung“vor allem am Anfang und im ersten Teil, wenn es buchstäblich Donner-schlag auf Schlag geht, ihre ganze Kraft. Sophie Bareis (Sopran), Markus Francke (Tenor) und Michael Roman (Bariton) sorgten mit ihren ausdrucksstarken Darbietungen dafür, dass die Botschaften der Engel Raphael, Uriel, Gabriel sowie von Adam und Eva (im dritten Teil) Stimme und Gewicht bekamen. Keine Frage: Blessings kongeniale Lesart des Oratorien-klassikers, der uns scheinbar so aufgeklärten Menschen ins Gewissen spricht wie kaum ein anderes Werk, „schöpfte“in jedem Moment aus den Vollen. Begeisterter Applaus.

 


© Augsburger Allgemeine Neu-Ulm, Dagmar Hub

"Die Schöpfung" in Ulm: Frühlingserwachen im Wintermantel

Augsburger Allgemeine Neu-Ulm vom 07.05.2019 von Dagmar Hub

Kalt, aber gut: Die Ulmer Kantorei bringt zusammen mit Orchester und Solisten Wärme in die Pauluskirche. Eine junge Sopranistin würde man gerne öfter in Ulm hören.

Die Leiterin der Ulmer Kantorei, Ulrike Blessing, hatte sich für das zweite große Konzert seit ihrer Ernennung für ein Werk entschieden, das traditionell dem Werden neuen Lebens im Frühling zugeordnet wird. Doch Adam (Michael Roman, Bariton) und Eva (Sophie Bareis, Sopran) sangen ihre Solopartien in Joseph Haydns „Schöpfung“ im Wintermantel. Das Oratorium, entstanden 1796 bis 1796, betrachtet die Welt und ihre Erschaffung aus der Perspektive, die Haydn seiner Zeit gemäß kannte. Der Mai ist für dieses an der Genesis, am Buch der Psalmen und an John Miltons „Paradise Lost“ orientierten Werk eine passende Zeit – doch an diesem kalten Maisonntag gelang es zwar der Musik, die Herzen der Zuhörer zu erwärmen, sonst aber war es draußen und drinnen in der Pauluskirche einfach kalt.

Es ist ein fast kindlicher Blick auf die Schöpfung, den Haydn mit seinem großen Tongemälde musikalisch interpretierte. Im Paradies herrscht kein Fressen und Gefressenwerden, wiewohl sich die Tiere auf Gottes Geheiß hin vermehren. Der schönste Teil des Werkes ist wohl der romantische dritte, wo das Libretto von der Genesis abweicht und Adam und Eva von ihrer Liebe zueinander erzählen und Gott danken. Chorleiterin Blessing folgte Haydns eigener Aufführungspraxis, indem die beiden Solisten, die die Rollen der Erzengel Gabriel und Raphael innehatten, zugleich auch die Soli von Adam und Eva übernehmen.

Sopran Sophie Bareis überzeugt mit Hingabe an die Musik
Die junge Sopranistin Sophie Bareis aus Böblingen, die am Staatstheater Karlsruhe engagiert ist, überzeugte in ihren beiden Partien so sehr mit ihrem glockenklaren Sopran und ihrer sympathischen Hingabe an die Musik, dass man ihre Stimme in Ulm gern öfter hören würde. Bareis’ Sopran und der Bariton des großartigen Michael Roman passen so gut zusammen, dass das Publikum an den Adam-und-Eva-Passagen seine reine Freude hatte, zumal beide auch mimisch Emotionen ausdrückten. Tenor Markus Francke vom Theater Ulm konnte in den wunderschön gesungenen lyrischen Passagen der Rolle des Erzengels Uriel mit den beiden anderen Solisten mithalten; wurde es in Haydns Tongemälde dramatisch, gelang das nicht in vollem Umfang.

Das Philharmonische Kammerorchester untermalte die monumentalen Chorpassagen unter Blessings temperamentvoller Leitung wohldosiert und überlagerte weder Chor noch Solisten. So wurde die Ideenwelt der Genesis musikalisch vorstellbar, in der Gott Himmel und Erde aus seiner Harmonie heraus erschafft, in der der Geist Gottes – zart interpretiert – über den Wassern schwebt: lautmalerisch die Stürme, frühlingshaft fröhlich das erste Grün der Weltenschöpfung, poetisch das Lob der Engel und dräuend tief das Leben des „Gewürms“ im Boden.

Raumfüllend erklang der Chorsatz „Heil dir, o Gott, o Schöpfer, Heil!“ – und nach den wunderschönen Duetten von Adam und Eva am Ende gab es starken Beifall und teilweise sogar Standing Ovations für die Sänger und Musiker, während der Chor, dem derzeit leider die Männerstimmen fehlen, umgekehrt den Musikern und Solisten applaudierte. (köd)

Die Ulmer Kantorei wünscht sich derzeit neue Sängerinnen und Sänger, wobei vor allem versierte Tenöre und Bässe gesucht werden. Interessierte können sich an den Chor per E-Mail an info@ulmer-kantorei.de wenden.

 

 

Franz Joseph Haydn (1732–1809): Die Schöpfung

Haydn, 1732 in Rohrau (Österreich) geboren, singt schon mit acht Jahren als Chorknabe am Wiener Stephansdom. Als er wegen des Stimmbruchs entlassen wird, verdient er seinen Lebensunterhalt als Klavierbegleiter und Tanzbodengeiger. Haydn wird Kapellmeister am Fürstenhaus Esterházy, bekommt diese Stellung lebenslang zugesagt und ist somit finanziell abgesichert.

Eine seiner wenigen Reisen führt Haydn 1791 nach London, wo ihn das große Händel-Festival tief beeindruckt. Bei einer zweiten Reise nach England bekommt er von seinem Konzertveranstalter Salomon die Textvorlage für Die Schöpfung, die angeblich für Händel geschaffen worden war. In Wien übersetzt Baron van Swieten den Text und macht daraus ein wirkungskräftiges Libretto, das Prosatexte der Schöpfungsgeschichte nach dem Ersten Buch Mose mit Paradise Lost, einem Gedicht des Dichters John Milton, verbindet.

Haydn arbeitet von Ende 1796 bis Anfang 1798 am Oratorium und feilt intensiv an dieser Komposition. Er legt den Schwerpunkt nicht mehr auf Arien und Rezitative, sondern wertet den Chor merklich auf. Pittoreske Naturschilderung und Lautmalerei zeichnen das Werk aus, das den Entwurf eines Menschheitsideals versucht.

Private Uraufführung 1798 in Wien, öffentliche Uraufführung 1799 in Wien, ein Jahr später Aufführung in London und weiteren Städten Englands, jeweils mit großem Erfolg, auch finanziell.

Die Begeisterung am Oratorium Die Schöpfung führte zur Bildung der Laienchorkultur mit großen Musikfesten. Bei einer Aufführung in Wien 1843 wirkten 320 Musiker im Orchester und 660 Personen im Chor mit. Haydns Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten (Uraufführung 1801) gelten mit ihrer elementaren Klarheit und Unmittelbarkeit des Ausdrucks als Höhepunkt der Gattung Oratorium.

Irmgard Lorenz

Quellen: Harenberg Chormusikführer, Dortmund 1999; Komponistenlexikon, Hg.: Horst Weber, Stuttgart 2003; Oratorienführer, Hg.: Silke Leopold u. Ullrich Scheideler, Stuttgart/Weimar 2000; Der Brockhaus Musik: Komponisten, Interpreten, Sachbegriffe, Mannheim/Leipzig 2006; Propyläen: Welt der Musik: Die Komponisten, Berlin/Frankfurt 1989.