J. S. Bach (anonym)
Lukas-Passion
Pauluskirche Ulm
Sonntag, 25. März 2018, 18.00 Uhr

 


Foto: Matthias Kessler

 

Abschied von Dirigent Albrecht Haupt

Südwestpresse Ulm vom 27.03.2018 von Christa Kanand

Ist es die Magie des Dirigierens? Während andere Musiker die Geige im Rentenalter beiseite legen, scheinen Dirigenten quasi alterslos zu sein. Auch Albrecht Haupt ist seit knapp sechs Jahrzehnten eine Institution im hiesigen Konzertleben – mit 88 Jahren immer noch fit, quirlig, mit großer Geste und voller Elan.

Diesmal jedoch stand auf dem Flyer „Albrecht Haupt sagt Ade“ – zusammen mit der Ulmer Kantorei, dem Orchester Camerata Ulm und sechs formidablen Gesangssolisten in der Pauluskirche. Optisch und akustisch beeindruckte das großartige Klangaufgebot in der Lukas-Passion.

Und Passion in einem anderen Sinn treibt Haupt wahrlich um. „Musik ist Ihr Leben, Ihre Leidenschaft“, sagte Oberbürgermeister Gunter Czisch in einer kurzen Dankesrede vor etwa 500 Besuchern. Mit dem Abschied des Kirchenmusikdirektors, seit 2010 Träger des Bundesverdienstkreuzes, gehe ein Stück Ulmer Musikgeschichte zu Ende. Wie Klassikfreunde wissen, eine lebhafte, sehr erfolgreiche Ära.

Wehmütige Atmosphäre

Zum letzten Mal stand Haupt jetzt am Dirigentenpult seiner Ulmer Kantorei, deren Leitung er seit 1959 inne hat. Einige inzwischen ausgeschiedene Chormitglieder der ersten Stunde kehrten sogar für die fast zweieinhalbstündige Lukas-Passion am Palmsonntag auf die Tribüne im Altarraum zurück. Eine denkwürdige Aufführung, bei der Haupts Ehefrau im Alt-Register mitsang und Tochter Tanja Bratsche in der Camerata spielte. Eine Atmosphäre voller Abschiedswehmut – bewegend und bewegt.

Der Kreis schloss sich. Vor 59 Jahren war die Aufführung der von Johann Sebastian Bach überlieferten Lukas-Passion sein erstes großes Werk, wie Haupt nach dem Konzert verriet – und jetzt war es sein letztes. Kein Passions-Hit, aber entdeckenswürdig in barocker Pracht, etwas kleinteilig und langatmig durch viele Wiederholungen, eher volkstümlich im Charakter.

Kernaussagen des christlichen Glaubens thematisiert die Passions-Historie vom Leiden und Sterben Jesu am Kreuz: Zentrale Position hatte der hervorragende Johannes Petz, der als vielbeschäftigter Evangelist fein artikulierend mit hellem Tenor das Geschehen vorantrieb. Glaubwürdig verlieh Emanuel Pichler mit sonorer Basskraft der Jesus-Partie Ausdruck.

Ebenso ideal besetzt waren Katarzyna Jagiello (Sopran I), Christianne Bélanger (Sopran II) und I Chiao Shih (Alt). Ihr Terzett der klagenden Frauen, die Jesus auf seinem Weg nach Golgatha folgen, war einer der vielen Höhepunkte. Die Bassisten Sönke Morbach (Pilatus) und Stefan Frieß komplettierten den Hörgenuss.

Den Solo-Arien und Rezitativen stand die etwa 80-köpfige stimmprächtige Kantorei gegenüber. Homogen, textklar und durchweg tadellos waren ihre zahlreichen innig-besinnlichen Choräle und aufgebrachten Volks-Chöre in das Passionsgeschehen verwoben. Im einträchtigen Ensemblegeist zusammen mit Conrad Schütze am Orgelpositiv meisterte die ausgezeichnet disponierte Camerata Ulm ihre Aufgaben, auch in wunderschönen Soli. Zuverlässig pulsierend wusste Albrecht Haupt die Continuo-Gruppe an seiner Seite. Berührend erklang die nur von den Holzbläsern (Oboen, Fagott) vorgetragene Sinfonia, die den Schlusschoral „Nur ruh, Erlöse“ umrahmte.

Nach langen Momenten des Schweigens entluden sich Andacht und Spannung in Applaus. Fünf Minuten Standing Ovations und Trampelsalven für den stolz lächelnden Albrecht Haupt, den Grandseigneur der Ulmer Chormusik. Im Abschiedsdefilee überreichten ihm „seine“ Chordamen 59 Rosen.

DIE PARTITUR DES THOMASKANTORS

Das Werk Bach hat die Lukas-Passion mindestens zwei Mal in Leipzig aufgeführt. Überliefert ist das Werk in einer von ihm selbst begonnenen und von Sohn Carl Philipp Emanuel Bach fertiggestellten Partitur. Wer die Passion tatsächlich komponiert hat, darüber rätselt die Fachwelt.

 


Foto: Felix Oechsler

 

Albrecht Haupts letzter großer Auftritt

Augsburger Allgemeine vom 27.03.2018 von Dagmar Hub

Dem 88-jährigen Dirigenten und seiner Ulmer Kantorei gelingt in der Pauluskirche eine intensive Lukas-Passion. Doch am Ende wird die Musik zur Nebensache.

Lang anhaltender Applaus empfing Albrecht Haupt in der Pauluskirche bereits vor Beginn der Aufführung der Lukas-Passion. Das große Passionswerk, dessen Partitur handschriftlich von Johann Sebastian Bach und dessen Sohn Philipp Emanuel vorliegt, hatte sich Kirchenmusikdirektor Haupt als letzte Chor-Aufführung seiner Laufbahn mit der Ulmer Kantorei und dem Orchester Camerata Ulm ausgewählt.

Haupt, der die Ulmer Kantorei seit 1959 leitete, gibt diese Leitung an einen Nachfolger ab, der im April bestimmt werden soll. Ulms Oberbürgermeister Gunter Czisch überbrachte persönlich vor Beginn des Konzerts den Dank der Stadt für Haupts knapp 60-jähriges Wirken an der Donau. Die anschließende Aufführung des zweieinhalbstündigen Mammut-Werkes wurde zu einer Hommage an den Kirchenmusiker, der 1958 zum Bezirkskantor an der Ulmer Martin-Luther-Kirche ernannt worden war.

Eine Atmosphäre der Melancholie lag über den Musikern und Sängern, und auch Albrecht Haupt war in Momenten der Aufführung trotz aller Konzentration eine tiefe Nachdenklichkeit anzumerken; Tochter Tanja, die ihm als Bratschistin im Orchester genau gegenüber saß, lächelte dem Vater immer wieder unterstützend zu.

Das Abschiedsgefühl führte aber auch dazu, dass sich alle Mitwirkenden extrem konzentrierten, um die Aufführung zu einem krönenden Abschluss einer sehr langen und großen Musiker-Laufbahn werden zu lassen: Die Chorsänger engagierten sich intensiv geraden in den Szenen der Passion, in denen die Stimmen von Menschenmengen durcheinander gehen – beispielsweise auf Jesu Frage hin, ob seine Nachfolger je Mangel litten. Das Orchester folgte Haupts Dirigat sorgfältigst und verblieb in den letzten Teilen der Passion in einem sehr zurückhaltenden, empathischen Klang. Die sieben Solisten Katarzyna Jagiello und Christianne Bélanger (Sopran), I Chiao Shih (Alt), Johannes Petz und Stefan Frieß (Tenor) sowie J. Emanuel Pichler und Sönke Morbach (Bass) erwiesen sich in der Interpretation der Rezitative und Arien als sehr gute Wahl, wobei vor allem Shih in der Arie „Du gibst mir Blut“ und der äußerst differenziert agierende Petz vom Württembergischen Staatstheater Stuttgart als Evangelist glänzten. Nach dem Verklingen des letzten Chorals „Nur ruh, Erlöser, in der Gruft“ dauerte es lange, bis Applaus die Stille in der praktisch voll besetzten Pauluskirche auflöste.

Das Publikum machte diese Phase des nicht enden wollenden Applauses stehend zur Hommage an Albrecht Haupt, den Chormitglieder und Konzertbesucher anschließend mit Rosen, mit persönlichen Worten und einem großen öffentlichen Dank überhäuften: Die Sängerinnen und Sänger des Chores hoben gemeinsam Plakate in die Höhe, auf denen Buchstaben ein „Danke Albrecht“ ergaben.

 

Einführung zur Lukas-Passion
Johann Sebastian Bach (1685- 1750)

Wohl kaum über ein anderes Werk aus der Feder von Johann Sebastian Bach ist so viel geschrieben und spekuliert worden wie über die Lukaspassion: Ist sie von Bach oder nicht? Im früheren Bachwerkeverzeichnis wird sie mit der Nummer BWV 246 geführt. Die Partitur liegt handschriftlich von Johann Sebastian Bach und seinem Sohn Philipp Emanuel vor. Dabei handelt es sich vermutlich um die eigenhändige Abschrift aus den 1740er Jahren von einem früheren Werk. Dies ist aus dem Vergleich mit den beiden allbekannten Passionen am einfacheren Kompositionsstil, besonders bei den auffallend vielen Chorälen zu beobachten. Es wird vermutet, dass diese Fassung einer weiteren Aufführung diente. In der Überschrift erscheint das von Bach nur bei einigen Werken verwendete J.J = Jesu Juva. Sehr eindrucksvoll ist der Schluss der Passion komponiert, wonach der Schilderung von Jesu Tod ein Bläserchoral erscheint; durchaus vergleichbar mit früheren Bachkantaten. Stilistisch kann man die Autorschaft vom Bachs Sohn Philipp Emanuel, der schon in Richtung Frühklassik komponierte ausschließen. Und wen gibt es aus Bachs Umfeld noch, der in einem ähnlichen Stil wie die Lukaspassion und dazu noch ein so umfangreiches Werk komponiert hätte? Auch wenn hier Fragen nicht mit letzter Gewissheit aufgeklärt werden können, bleibt die Freude daran, hier ein weiteres großes Passionswerk (zumindest aus Bachs engstem Umfeld) zu musizieren und dem Hörer nahe zu bringen.

Albrecht Haupt